FilmVorführung / 1974 / Konrad Wolf
07.05.2024 20:00 Uhr
Kino Pupille Frankfurt am Main
"Jede Sache hat etwas, was man gleich sieht und was man nicht gleich sieht, aber es muss erstmal da stehen und Licht drauf scheinen."
Der Bildhauer Kemmel schafft einem Fußballverein eine Skulptur, mit der er vor allem auf Ablehnung stößt: einen nackter Läufer. Der nackte Mann auf dem Sportplatz zeigt Fremdheit und Konflikte zwischen Künstler*innen und DDR-Gesellschaft.
"Es geht […] um das Glück des Menschen und um seine unbegrenzte schöpferische Potenz." (Konrad Wolf, 21.04.1974)
Am 16. April 2010 wurde am Rande des Duisburger Kantparks eine Skulptur des Künstlers Hans-Peter Feldmann enthüllt. Offizielle freuten sich über das sechs Meter hohe Werk. Der Direktor des nahegelegenen Lehmbruck-Museums las Auszüge aus dem Alten Testament. Doch der nackte David, wie die Skulptur bald genannt werden sollte, hatte ein Problem: Es handelte sich um eine übergroße Kopie von Michelangelos berühmter Davidstatue, und das bedeutet – Teil der Figur ist sein sichtbarer Phallus.
Deshalb stieß die Skulptur bei einigen Duisburger:innen auf Widerstand. Sogar schon einen Tag vor der Enthüllung titelte die Rheinische Post: „Nackte David-Skulptur in Duisburg ist umstritten“.
„Der nackte Mann? Na ja. Vorher fand ich die Ecke schöner“, so André Fleischmann. „Aber vielleicht liegt es ja an meinem Alter“, fügt der 83-Jährige an. „Cool, abgefahren, klasse“, sagt Nina Kromann – im Prinzip, nur: „Mit Hose fände ich den David noch besser.“ „Da kommen täglich Hunderte Kinder vorbei, die jetzt immer auf einen nackten Mann starren müssen – das finde ich unmöglich“, meint eine junge Mutter. Am Ende des Artikels, aus dem diese Zitate stammen, findet sich die Aufforderung: „Diskutieren Sie mit!“ Und darunter ein Link: „Hier geht es zur Bilderstrecke: Nackter David erhitzt die Gemüter.“
Es blieb nicht das letzte Mal, dass der nackte David für Wirbel sorgte. Am 2. September 2011 titelt der Wochenanzeiger: „Ein Lendenschurz für nackten David!“ In dieser Woche haben Unbekannte die Skulptur untenrum mit einem Lendenschurz bedeckt. In einer Bekennerbotschaft per CD ans Lehmbruck-Museum verwies die vermummte „Täterschaft“, die irgendwann „später“ mehr über sich preisgeben wollte, auf die desolate Haushaltslage der Stadt Duisburg. Da hätte es wohl für die passende Kleidung nicht mehr gereicht.
Schon ein Jahr später sorgt die Skulptur wieder für Schlagzeilen:
Drei Jahre später dann das Ende: „Der Westen“ titelt am 28. November 2016: „David- Skulptur im Duisburger Kantpark wird endgültig abgebaut“. Was aus dem David wird, ist heute noch vollkommen unklar. Sicher scheint nur zu sein, dass die Monumentalskulptur nicht mehr auf dem Sockel im Kantpark stehen bleiben konnte. Die Schäden an dem Werk sind unübersehbar. Die ständige Restaurierung wäre für das Museum zu teuer.
Kunst und Gesellschaft
Mit der Handlung des Films „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ von Konrad Wolf steht die Geschichte des David nicht in Verbindung. Der titelgebende nackte Mann stellt im Film nur eine Randnotiz dar. Ein MacGuffin, der wie Godot den Rahmen einer stattfindenden Handlung bildet, jedoch selbst nicht auftritt. Wenn, wie im Film „Der Nackte Mann auf dem Sportplatz“, behauptet wird, jede Sache, die nicht ganz schlecht ist, etwas hat, das man gleich sieht und etwas hat, das man nicht gleich sieht, dann gehört die Skulptur des nackten Mannes auf dem Sportplatz und seine Nacktheit im Besonderen zu den Dingen, die man nicht oder zumindest nicht gleich sieht.
Der Plot folgt dem Bildhauer Kemmel durch seinen Alltag, der von mobilen Kameras fast wie in einem Homevideo begleitet wird. Häufig sieht man ihn bei der Arbeit draußen oder in seinem Atelier, alleine mit den Steinen. Unterlegt mit vordergründiger Musik, die von einer Einstellung in die nächste ragt und die inhaltlich lose verbundenen Szenen des Films miteinander verknüpft.
Meistens passieren Dialoge nebenbei, wirken sachlich aber sorglos, während sie die Fragen nach dem Verhältnis von Kunst, Künstler und Gesellschaft verhandeln: Wie erreicht man ein Publikum? Wie verpasst man es? Welche Wirkung soll ein Werk haben? Wie langweilt man niemanden?
Ein ständig von neuen Überlegungen unterbrochenes Nachdenken ist statt einer stringenten Handlung so etwas wie der eigentliche Inhalt des Films.
Konrad Wolf macht klar, dass Arbeit der gemeinsame Nenner ist, der eine Verbindung zwischen den Arbeiter:innen vom Dorf und dem Künstler aus der Stadt herstellt. Wenn die Arbeiter merken, dass der Bildhauer einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgeht wie sie selbst, fangen sie an, einen empathischeren Blick auf ihn zu entwickeln. Mit seinen Werken können sie am Ende nichts anfangen, doch zwischen dem Bildhauer Kemmel und dem Wismut-Arbeiter Hannes entsteht am Ende des Films behutsame Freundschaft.*
Are they Gay?
Leidenschaftliche Fag-Spotter, zu Deutsch „Tunten-Sucher“, können hier ihre helle Freude haben. Der Begriff „Fag-Spotter“ stammt von dem Filmwissenschaftler Thomas Waugh, der 1977 ein Essay mit dem Titel „A Fag-Spotter’s Guide to Eisenstein“ geschrieben hat. Darin schlägt er vor, das Vermächtnis des sowjetischen Regisseurs für ein post-Stonewall- Publikum neu zu interpretieren. (vgl. Waugh 1977)
Auch wenn Konrad Wolf im Gegensatz zu Eisenstein selbst nicht homosexuell war, drängt sich eine homoerotische Lesart des Films „Der Nackte Mann auf dem Sportplatz“ so auf, dass sie vom Zuschauer kaum oder nur gerade eben noch durch eigenes hinzutun entziffert werden muss. Deutlich zeigt sich die offensichtliche Gayness des Films, wenn 20 Minuten vor Schluss der Plot zwischen dem Bildhauer Kemmel und dem Wismut-Arbeiter Hannes in Fahrt kommt.
Zwischen diesen beiden unelegant, doch entspannt wirkenden Männern besteht im Rahmen des Drehbuchs keine vorgesehene homoerotische Spannung. Sie haben kaum und erst sehr spät gemeinsame Bildschirmzeit zu zweit und berühren sich so gut wie nie. Und gerade wegen der überdeutlichen Abwesenheit dieser Berührungen manifestiert sich für den Zuschauer sukzessive die Möglichkeit ihrer erotischen Beziehung. Denn in Filmen wird überschwängliche körperliche Nähe zwischen Männern immer als Symbol für rein platonische Freundschaften verwendet, während die Distanz zum Objekt der intimen Begierde den Beginn von erotischen Bindungen markiert.
Lässt man sich auf diese „Gegenlesart“ ein, wird aus dem leisen Anfangsverdacht, den man in Hannes‘ scharfe Blicke legt – Are they gay? – eine dröhnende Eindeutigkeit, sodass man ihnen schließlich zur eigenen Erleichterung zurufen möchte, dass sie sich doch endlich küssen sollen.
Wie unangemessen oder verkehrt solche Assoziationen auch sein mögen, muss trotzdem unterstellt werden, dass im System der Logik der Kunst auch ein Weg von gerade diesem Element des Werks zu gerade dieser Assoziation führt. (vgl. Lethen & Lehmann 1992) Unterstrichen wird dies Film noch durch den sorgenvollen Anruf von Kemmels Frau, die ihm Unterstellt, dass sie sich ja gar nicht mehr kennen würden.
Neue Klischees
Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase äußerte sich folgenderweise: „Dieser Film, das wussten wir, erfüllt möglicherweise bestimmte Erwartungen nicht. Aber wenn man nicht immer mal etwas Neues macht, wo kommen dann die Klischees von morgen her? Weil das wird dann ja nachgemacht.“
„Der Nackte Mann“ ist das Ergebnis einer ungewöhnlichen Arbeitsweise. Wolfgang Kohlhaase war mit dem DDR-Bildhauer Werner Stötzer befreundet. Die Freude an der Zusammenarbeit mit Stötzer war der Ausgangspunkt für Kohlhaases Drehbuch. Stötzer wurde von ihm als Kommunikationstalent bezeichnet. Aus dessen Erzählungen machte Kohlhaase Notizen. Aus diesen Notizen wurde, wie Kohlhaase sagt, „eine Art Handlung“. Diese teilte Kohlhaase dann mit Konrad Wolf.
Nachdem Wolf das große Filmprojekt Goya – Eine sowjetische Koproduktion beendet hatte, in dem die Problematik von Künstler und Gesellschaft ebenfalls behandelt wurde, wollte er einen Film machen, der ihm selbst gefiel. Dabei wollte er sich nicht am klassischen Schema einer Hollywood-Dramaturgie orientieren.
Es gab keine Notizen und Zeichnungen im Skript, die diktierten, wie eine Szene gespielt werden sollte. Stattdessen wurden die Szenen aus dem Moment heraus entwickelt – vor Ort improvisiert.
Konrad Wolf sagte über den Film: „Manchmal haben wir uns schon selbst gefragt: Müsste er in irgendeiner Szene nicht mehr aus sich herausgehen, emotionaler reagieren?
Vielleicht. Erst als ich den Film mal im Zusammenhang sah, kam mir der Gedanke: Vielleicht hat er auch ein bisschen von dir selbst … Ich hatte jedenfalls ein großes Vertrauen gerade in das Statuarische, bar jeder äußerlichen, d. h. aufgesetzten Emotionalität. Es ist eben ein anderer Künstler, nicht wie man ihn sich landläufig vorstellt – der immer verklärt mit dem Pinsel im Maul ungeheuer drauf losgeht.“
Als Inspiration diente die tatsächlich existierende Skulptur Werner Stötzers mit dem Namen „Der Nackte Mann auf dem Sportplatz“. Alle im Film zu sehenden Skulpturen stammen von ihm. Errichtet wurde das titelgebende Kunstwerk in seinem Geburtsort Steinach in Thüringen zur Feier des Aufstiegs des kleinsten Fußballvereins der DDR. Nur aufgeregt hat sich in der realen DDR niemand darüber – FKK sei Dank. Doch das Publikum des Films war nicht zufrieden: Stötzers Freunde aus der Freiwilligen Feuerwehr von Steinach sagten ihm, als sie aus dem Kino kamen: „Also Werner, ein Krimi war es nicht.“
Verzögerte Aktualität
Handlungen, die sich selbst unterbrechen, antiklimaktisch sind und eben nicht auf einen absehbaren und zwangsläufigen Schicksalsmoment zusteuern, gibt es spätestens seit Brecht. Walter Benjamin erklärte die sich selbst unterbrechende Handlung zu einem entscheidenden Moment revolutionärer Kunst. Dabei steht unter anderem der Gedanke im Mittelpunkt, dass eben in dem Zwischenraum der Handlung – also in der Unterbrechung – eine Form von Subjektivierung stattfindet, in der das Leben eigentlich erst geschieht.
In diesem Sinne ist Der Nackte Mann auf dem Sportplatz ein moderner Film, der – gewollt oder nicht – in die Reihe des Avantgardeprojekts des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden kann.
In der DDR-Sendung „Kulturmagazin“ vom 10. Mai 1974 wurde Konrad Wolf nach der Premiere vom Publikum konfrontiert. Der Film habe keine Spannung, sei nicht klamaukig genug. Man müsse sich ganz schön konzentrieren – besonders nach einem achtstündigen Arbeitstag. Beschwichtigend sagte jemand, dass der Film in 20 Jahren bestimmt sein Publikum finden werde. Leider habe er es heute noch nicht.
Die Frage nach der Aktualität des Films, liegt aber nicht in seiner Übereinstimmung mit einem bestimmten Zeitgeist. Sie liegt stattdessen immer schon in der Konfrontation mit einem Publikum, das gemeinsam mit dem Film das Werk erst vollständig hervorbringt. Was zur Aktualität in diesem Sinne, zum Nackten Mann als kunstphilosophischem Essay und zum Fag-Spotting als Möglichkeit einer queeren Gegenlesart des Films gesagt wurde, liegt demnach nicht unter seiner Entstehungsgeschichte begraben. Was uns von ihm trennt, sind nicht so sehr 50 Jahre wie 50 Meter – nämlich der Abstand unserer Augen zur Leinwand.
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* Als Wismut-Arbeiter werden diejenigen bezeichnet, die für die spätere Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut bis zum Ende der DDR etwa 231.000 Tonnen Uran unter katastrophalen Arbeitsbedingungen förderten und aufgrund dessen vielfach krank wurden. Ein Thema, das im Film nicht behandelt wird, also ebenfalls zu den Teilen des Films gehört, die man nicht gleich sieht.
FilmVorführung / 1974 / Konrad Wolf
07.05.2024 20:00 Uhr
Kino Pupille Frankfurt am Main
"Jede Sache hat etwas, was man gleich sieht und was man nicht gleich sieht, aber es muss erstmal da stehen und Licht drauf scheinen."
Der Bildhauer Kemmel schafft einem Fußballverein eine Skulptur, mit der er vor allem auf Ablehnung stößt: einen nackter Läufer. Der nackte Mann auf dem Sportplatz zeigt Fremdheit und Konflikte zwischen Künstler*innen und DDR-Gesellschaft.
Kommentar: Tjark-Hagen Kandulski
Am 16. April 2010 wurde am Rande des Duisburger Kantparks eine Skulptur des Künstlers Hans-Peter Feldmann enthüllt. Offizielle freuten sich über das sechs Meter hohe Werk. Der Direktor des nahegelegenen Lehmbruck-Museums las Auszüge aus dem Alten Testament. Doch der nackte David, wie die Skulptur bald genannt werden sollte, hatte ein Problem: Es handelte sich um eine übergroße Kopie von Michelangelos berühmter Davidstatue, und das bedeutet – Teil der Figur ist sein sichtbarer Phallus.
Deshalb stieß die Skulptur bei einigen Duisburger:innen auf Widerstand. Sogar schon einen Tag vor der Enthüllung titelte die Rheinische Post: „Nackte David-Skulptur in Duisburg ist umstritten“.
„Der nackte Mann? Na ja. Vorher fand ich die Ecke schöner“, so André Fleischmann. „Aber vielleicht liegt es ja an meinem Alter“, fügt der 83-Jährige an. „Cool, abgefahren, klasse“, sagt Nina Kromann – im Prinzip, nur: „Mit Hose fände ich den David noch besser.“ „Da kommen täglich Hunderte Kinder vorbei, die jetzt immer auf einen nackten Mann starren müssen – das finde ich unmöglich“, meint eine junge Mutter. Am Ende des Artikels, aus dem diese Zitate stammen, findet sich die Aufforderung: „Diskutieren Sie mit!“ Und darunter ein Link: „Hier geht es zur Bilderstrecke: Nackter David erhitzt die Gemüter.“
Es blieb nicht das letzte Mal, dass der nackte David für Wirbel sorgte. Am 2. September 2011 titelt der Wochenanzeiger: „Ein Lendenschurz für nackten David!“ In dieser Woche haben Unbekannte die Skulptur untenrum mit einem Lendenschurz bedeckt. In einer Bekennerbotschaft per CD ans Lehmbruck-Museum verwies die vermummte „Täterschaft“, die irgendwann „später“ mehr über sich preisgeben wollte, auf die desolate Haushaltslage der Stadt Duisburg. Da hätte es wohl für die passende Kleidung nicht mehr gereicht.
Schon ein Jahr später sorgt die Skulptur wieder für Schlagzeilen:
Drei Jahre später dann das Ende: „Der Westen“ titelt am 28. November 2016: „David- Skulptur im Duisburger Kantpark wird endgültig abgebaut“. Was aus dem David wird, ist heute noch vollkommen unklar. Sicher scheint nur zu sein, dass die Monumentalskulptur nicht mehr auf dem Sockel im Kantpark stehen bleiben konnte. Die Schäden an dem Werk sind unübersehbar. Die ständige Restaurierung wäre für das Museum zu teuer.
Kunst und Gesellschaft
Mit der Handlung des Films „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“ von Konrad Wolf steht die Geschichte des David nicht in Verbindung. Der titelgebende nackte Mann stellt im Film nur eine Randnotiz dar. Ein MacGuffin, der wie Godot den Rahmen einer stattfindenden Handlung bildet, jedoch selbst nicht auftritt. Wenn, wie im Film „Der Nackte Mann auf dem Sportplatz“, behauptet wird, jede Sache, die nicht ganz schlecht ist, etwas hat, das man gleich sieht und etwas hat, das man nicht gleich sieht, dann gehört die Skulptur des nackten Mannes auf dem Sportplatz und seine Nacktheit im Besonderen zu den Dingen, die man nicht oder zumindest nicht gleich sieht.
Der Plot folgt dem Bildhauer Kemmel durch seinen Alltag, der von mobilen Kameras fast wie in einem Homevideo begleitet wird. Häufig sieht man ihn bei der Arbeit draußen oder in seinem Atelier, alleine mit den Steinen. Unterlegt mit vordergründiger Musik, die von einer Einstellung in die nächste ragt und die inhaltlich lose verbundenen Szenen des Films miteinander verknüpft.
Meistens passieren Dialoge nebenbei, wirken sachlich aber sorglos, während sie die Fragen nach dem Verhältnis von Kunst, Künstler und Gesellschaft verhandeln: Wie erreicht man ein Publikum? Wie verpasst man es? Welche Wirkung soll ein Werk haben? Wie langweilt man niemanden?
Ein ständig von neuen Überlegungen unterbrochenes Nachdenken ist statt einer stringenten Handlung so etwas wie der eigentliche Inhalt des Films.
Konrad Wolf macht klar, dass Arbeit der gemeinsame Nenner ist, der eine Verbindung zwischen den Arbeiter:innen vom Dorf und dem Künstler aus der Stadt herstellt. Wenn die Arbeiter merken, dass der Bildhauer einer körperlich anstrengenden Arbeit nachgeht wie sie selbst, fangen sie an, einen empathischeren Blick auf ihn zu entwickeln. Mit seinen Werken können sie am Ende nichts anfangen, doch zwischen dem Bildhauer Kemmel und dem Wismut-Arbeiter Hannes entsteht am Ende des Films behutsame Freundschaft.*
Are they Gay?
Leidenschaftliche Fag-Spotter, zu Deutsch „Tunten-Sucher“, können hier ihre helle Freude haben. Der Begriff „Fag-Spotter“ stammt von dem Filmwissenschaftler Thomas Waugh, der 1977 ein Essay mit dem Titel „A Fag-Spotter’s Guide to Eisenstein“ geschrieben hat. Darin schlägt er vor, das Vermächtnis des sowjetischen Regisseurs für ein post-Stonewall- Publikum neu zu interpretieren. (vgl. Waugh 1977)
Auch wenn Konrad Wolf im Gegensatz zu Eisenstein selbst nicht homosexuell war, drängt sich eine homoerotische Lesart des Films „Der Nackte Mann auf dem Sportplatz“ so auf, dass sie vom Zuschauer kaum oder nur gerade eben noch durch eigenes hinzutun entziffert werden muss. Deutlich zeigt sich die offensichtliche Gayness des Films, wenn 20 Minuten vor Schluss der Plot zwischen dem Bildhauer Kemmel und dem Wismut-Arbeiter Hannes in Fahrt kommt.
Zwischen diesen beiden unelegant, doch entspannt wirkenden Männern besteht im Rahmen des Drehbuchs keine vorgesehene homoerotische Spannung. Sie haben kaum und erst sehr spät gemeinsame Bildschirmzeit zu zweit und berühren sich so gut wie nie. Und gerade wegen der überdeutlichen Abwesenheit dieser Berührungen manifestiert sich für den Zuschauer sukzessive die Möglichkeit ihrer erotischen Beziehung. Denn in Filmen wird überschwängliche körperliche Nähe zwischen Männern immer als Symbol für rein platonische Freundschaften verwendet, während die Distanz zum Objekt der intimen Begierde den Beginn von erotischen Bindungen markiert.
Lässt man sich auf diese „Gegenlesart“ ein, wird aus dem leisen Anfangsverdacht, den man in Hannes‘ scharfe Blicke legt – Are they gay? – eine dröhnende Eindeutigkeit, sodass man ihnen schließlich zur eigenen Erleichterung zurufen möchte, dass sie sich doch endlich küssen sollen.
Wie unangemessen oder verkehrt solche Assoziationen auch sein mögen, muss trotzdem unterstellt werden, dass im System der Logik der Kunst auch ein Weg von gerade diesem Element des Werks zu gerade dieser Assoziation führt. (vgl. Lethen & Lehmann 1992) Unterstrichen wird dies Film noch durch den sorgenvollen Anruf von Kemmels Frau, die ihm Unterstellt, dass sie sich ja gar nicht mehr kennen würden.
Neue Klischees
Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase äußerte sich folgenderweise: „Dieser Film, das wussten wir, erfüllt möglicherweise bestimmte Erwartungen nicht. Aber wenn man nicht immer mal etwas Neues macht, wo kommen dann die Klischees von morgen her? Weil das wird dann ja nachgemacht.“
„Der Nackte Mann“ ist das Ergebnis einer ungewöhnlichen Arbeitsweise. Wolfgang Kohlhaase war mit dem DDR-Bildhauer Werner Stötzer befreundet. Die Freude an der Zusammenarbeit mit Stötzer war der Ausgangspunkt für Kohlhaases Drehbuch. Stötzer wurde von ihm als Kommunikationstalent bezeichnet. Aus dessen Erzählungen machte Kohlhaase Notizen. Aus diesen Notizen wurde, wie Kohlhaase sagt, „eine Art Handlung“. Diese teilte Kohlhaase dann mit Konrad Wolf.
Nachdem Wolf das große Filmprojekt Goya – Eine sowjetische Koproduktion beendet hatte, in dem die Problematik von Künstler und Gesellschaft ebenfalls behandelt wurde, wollte er einen Film machen, der ihm selbst gefiel. Dabei wollte er sich nicht am klassischen Schema einer Hollywood-Dramaturgie orientieren.
Es gab keine Notizen und Zeichnungen im Skript, die diktierten, wie eine Szene gespielt werden sollte. Stattdessen wurden die Szenen aus dem Moment heraus entwickelt – vor Ort improvisiert.
Konrad Wolf sagte über den Film: „Manchmal haben wir uns schon selbst gefragt: Müsste er in irgendeiner Szene nicht mehr aus sich herausgehen, emotionaler reagieren?
Vielleicht. Erst als ich den Film mal im Zusammenhang sah, kam mir der Gedanke: Vielleicht hat er auch ein bisschen von dir selbst … Ich hatte jedenfalls ein großes Vertrauen gerade in das Statuarische, bar jeder äußerlichen, d. h. aufgesetzten Emotionalität. Es ist eben ein anderer Künstler, nicht wie man ihn sich landläufig vorstellt – der immer verklärt mit dem Pinsel im Maul ungeheuer drauf losgeht.“
Als Inspiration diente die tatsächlich existierende Skulptur Werner Stötzers mit dem Namen „Der Nackte Mann auf dem Sportplatz“. Alle im Film zu sehenden Skulpturen stammen von ihm. Errichtet wurde das titelgebende Kunstwerk in seinem Geburtsort Steinach in Thüringen zur Feier des Aufstiegs des kleinsten Fußballvereins der DDR. Nur aufgeregt hat sich in der realen DDR niemand darüber – FKK sei Dank. Doch das Publikum des Films war nicht zufrieden: Stötzers Freunde aus der Freiwilligen Feuerwehr von Steinach sagten ihm, als sie aus dem Kino kamen: „Also Werner, ein Krimi war es nicht.“
Verzögerte Aktualität
Handlungen, die sich selbst unterbrechen, antiklimaktisch sind und eben nicht auf einen absehbaren und zwangsläufigen Schicksalsmoment zusteuern, gibt es spätestens seit Brecht. Walter Benjamin erklärte die sich selbst unterbrechende Handlung zu einem entscheidenden Moment revolutionärer Kunst. Dabei steht unter anderem der Gedanke im Mittelpunkt, dass eben in dem Zwischenraum der Handlung – also in der Unterbrechung – eine Form von Subjektivierung stattfindet, in der das Leben eigentlich erst geschieht.
In diesem Sinne ist Der Nackte Mann auf dem Sportplatz ein moderner Film, der – gewollt oder nicht – in die Reihe des Avantgardeprojekts des 20. Jahrhunderts eingeordnet werden kann.
In der DDR-Sendung „Kulturmagazin“ vom 10. Mai 1974 wurde Konrad Wolf nach der Premiere vom Publikum konfrontiert. Der Film habe keine Spannung, sei nicht klamaukig genug. Man müsse sich ganz schön konzentrieren – besonders nach einem achtstündigen Arbeitstag. Beschwichtigend sagte jemand, dass der Film in 20 Jahren bestimmt sein Publikum finden werde. Leider habe er es heute noch nicht.
Die Frage nach der Aktualität des Films, liegt aber nicht in seiner Übereinstimmung mit einem bestimmten Zeitgeist. Sie liegt stattdessen immer schon in der Konfrontation mit einem Publikum, das gemeinsam mit dem Film das Werk erst vollständig hervorbringt. Was zur Aktualität in diesem Sinne, zum Nackten Mann als kunstphilosophischem Essay und zum Fag-Spotting als Möglichkeit einer queeren Gegenlesart des Films gesagt wurde, liegt demnach nicht unter seiner Entstehungsgeschichte begraben. Was uns von ihm trennt, sind nicht so sehr 50 Jahre wie 50 Meter – nämlich der Abstand unserer Augen zur Leinwand.
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* Als Wismut-Arbeiter werden diejenigen bezeichnet, die für die spätere Sowjetisch-Deutsche Aktiengesellschaft (SDAG) Wismut bis zum Ende der DDR etwa 231.000 Tonnen Uran unter katastrophalen Arbeitsbedingungen förderten und aufgrund dessen vielfach krank wurden. Ein Thema, das im Film nicht behandelt wird, also ebenfalls zu den Teilen des Films gehört, die man nicht gleich sieht.
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf