24.11.2025
‚bin weiblich, bin männlich, doppelt‘. Queere DDR-Literatur
Exklusive Leseprobe des Bandes „'bin weiblich, bin männlich, doppelt'. Queere DDR-Literatur" (hg. Franziska Haug, Mitteldeutscher Verlag 2025)
Vorwort von Franziska Haug
Eine Frau mit männlicher Vergangenheit
müsste man sein.
(Irmtraud Morgner)
wie wirkt, worin wir leben?
(Ronald M. Schernikau)
Im Jahr 1977, mit gerade einmal 17 Jahren, beginnt der schwule Kommunist Ronald M. Schernikau die Arbeit an seiner Kleinstadtnovelle. Eine Frage treibt ihn dabei an und um, die sich fortan als paradigmatisches Verfahren seiner Literatur herausstellen und in seinem Opus magnum Legende wieder auftauchen wird: „wie wirkt, worin wir leben?“ (1) Die Antwort auf die Frage, was das Worin ist, scheint in unserem Fall einfach: eine sozialistische Gesellschaft; genauer: die DDR. Und trotz oder gerade, weil die DDR keine „Gesellschaft der Singularitäten“ (2) sondern eine des Kollektiven war, ist die Antwort auf die Frage nach dem WIR des und im Sozialismus komplizierter: Wie wirkt die DDR für Schwule und Lesben? Wie wirkt Kommunismus für Frauen und Queers; wie das sozialistische Kollektiv im Individuellen? War es möglich, sich nichtidentisch zum Staat zu verhalten? Wie wirkt die DDR für Maxie Wanders Mädchen und Frauen aus Guten Morgen, du Schöne; wie für Jürgen Lemkes Männer in Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer? Wie wirkt der „Geschlechtertausch“ (3) Sarah Kirschs, Christa Wolfs, Günter de Bryns, Gottlob Glogers und vieler weiterer auf die Gesellschaftsverhältnisse? Wie also verhält sich das gesellschaftliche Ganze auf und in jenen einzelnen Leben und Geschichten, die wir heute queer nennen, und wie wiederum wirken jene Erzählungen und Leben ins Ganze zurück? Was haben nicht zuletzt das Erzählen, die (literarische) Sprache und Schrift für eine Rolle in eben diesen Wirkungsprozessen?
Wollen wir das Verhältnis von Gesellschaft und Geschlecht verstehen, müssen wir – zumindest laut Schernikau – nach dem Wie fragen. Etwas ist, wie es wirkt. Das Verhältnis von DDR/Sozialismus (Worin) und Geschlecht/Queerness (Wir) lässt sich nicht kausal verstehen: Es muss gerade in seiner Verzahnung und von den brüchigen Rändern ausgehend gedacht werden. „wie wirkt, worin wir leben“, beschreibt in diesem Sinne ein (literarisches) Verfahren, das einerseits die Wirklichkeit zum Ausgangspunkt nimmt, andererseits eben jene Wirklichkeit immer auch erschreibt, erarbeitet und herstellt. Was Sozialismus ist („worin wir leben“), lässt sich also über das Wie, über bestimmte ästhetisch- politische Formen und ihre Wirkungsweisen begreifen. Sozialismus ist, wie er wirkt. Dies gilt ebenso für Geschlecht, Sexualität und Begehren. Wir sind derart geschlechtlich, wie Geschlechterverhältnisse wirken. Oder mit Barbara Vinken gesprochen: „An die Stelle der Frage: Was ist eine Frau, tritt die Frage: wie wird man eine Frau.“ (4) Ohne einen Nachvollzug der Art und Weise des Werdens lässt sich weder beantworten, was Sozialismus noch was Geschlecht ist.
In Schernikaus Frage kommt für mich ein literarisches Verfahren zum Tragen, das ich queeren Materialismus nenne. Queer ist er, indem er sich über Fragen der Form – über das Wie – erschließt und erschreibt. Ein Materialismus, der darum weiß, dass die Dinge nicht gegeben, sondern gemacht sind, und der dennoch ihre Stofflichkeit, Leiblichkeit nicht ignoriert, sondern sich stattdessen dem widerständigen, abweichenden, nicht einordenbaren Spuren im Material zuwendet. Ein Materialismus also, der eben darum gerade gleichzeitig wirklich und (sozialistisch) realistisch ist, weil er sich über die Form, über das Wie seines Machens und Wirkens begreift.
Ich gehe also davon aus, dass sich in und durch literarische Formen Geschichten vermitteln, die wir ohne einen Nachvollzug eben jener Formen und Wirkungsweisen nicht sehen und hören würden. Was Queerness in der DDR war; davon können wir etwas erahnen, wenn wir darauf schauen, wie erzählt wird: Welche Erzählperspektiven und Stimmen sprechen in welchen Positionen und Funktionen? Was wird ausgelassen, was ausgeschmückt? Warum Blankvers und Drama? Was erzählt ein Brigadetagebuch, was eine Annonce in der „frau anders“? Bleibt eine Stadt wie Hoyerswerda die gleiche, wenn sie aus der Perspektive eines Liedermachers, aus der einer Architektin oder von den Kindern von Hoy erzählt wird?
In keinem anderen Land mit vergleichbarerer Größe wurde in der Kürze seiner Existenz so viel Literatur produziert und rezipiert wie in der DDR. Wo sonst, wenn nicht in Prosa, Lyrik, Theater, Zeitungen, Protokollen, Musik usw., wo sonst, wenn nicht in Literatur im weiten Sinne, sollten wir heute suchen, wenn wir etwas über Geschlecht, Sexualität, Begehren, Identität, Familie, Beziehungen, Träume und Wünsche in der DDR erfahren wollten? Dass die Literatur der DDR im westdeutschen Kanon der Germanistik, in den Gender Studies und im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik kaum eine Rolle spielt oder zumindest die letzten 35 Jahre grob vernachlässigt wurde, lässt sich daher nur politisch, nicht aber ästhetisch erklären.
An den Anfang dieses Bandes möchte ich in diesem Sinne folgende Behauptung stellen: Die Literatur der DDR spricht wie kaum eine andere Literatur eine Sprache, die ihren Ort im Dazwischen hat: in den Widersprüchen zwischen Wirklichkeit- Möglichkeit, Materie-Form, Träumen Fürchten, Gehen-Bleiben, Fakt-Fiktion… Weil die Literatur der DDR im ästhetischen Sinne formversessen und im materialistischen Sinne realistisch ist, vermute ich, dass in ihr solche Art literarischer Verfahren zum Tragen kommen, die ich queeren Materialismus genannt habe. Queerness-DDR-Materialismus – das mag widersprüchlich klingen. Vielleicht ist es das auch; vielleicht bleiben unaufhebbare Reste dieses Widerspruchs. Aber richtig ist auch, dass, wie Thomas Brasch sagte, im Widerspruch die Hoffnung liegt. Das Verhältnis und die Widersprüche von Sexualität+Geschlecht auf der einen und Kommunismus+Sozialismus auf der anderen Seite zu denken heißt auch, auf Spurensuche nach Hoffnungen und Möglichkeitsräumen eines gerechten – also klassenlosen – und vom Zwang geschlechtlicher Identifikation befreiten – also queeren – Lebens zu gehen. Die DDR war vom Widerspruch geprägt, ein gerechtes Land für alle und doch repressiv gegen Einzelne zu sein. Sie war geprägt vom Widerspruch zwischen Fortschritt und Regress, Revolution und Restauration, starken Frauen und traurigen Männern, sprachlosen Eltern und drängenden Kindern, Träumen und Fürchten, vom Gehen oder Bleiben.
Die hier versammelten Beiträge sind ein unvollständiger Versuch, den literarischen Spuren des Nichtidentischen in Geschlecht, Sexualität und Begehren in der DDR nachzugehen. Der Term „Queer“ ist dabei offensichtlich ein nachträgliches Werkzeug, dessen Anwendung im Kontext DDR; also auf eine Zeit, in der es ihn in Europa generell noch nicht gab, vielleicht fragwürdig ist. Gleichzeitig beschreibt er genau das, was ich in Bezug auf Geschlechterfragen in der DDR-Literatur so kostbar und interessant finde: dass sich in ihr eine Sprache der Abweichung, der Spuren und Reste für das Sexuelle, das Begehren und Geschlecht finden lässt. Eine Sprache, die noch keine festen Kategorien und Termini kennt und somit Sexualität von den nichtidentischen Rändern aus erschreibt. Wolfgang Emmerich bezeichnet in diesem Sinne das, was im literarischen Geschlechtertausch der DDR-Autor:innen passiert, als Infragestellung von nicht „nur“ der Geschlechtsidentität, den vergeschlechtlichen Rollen und Normen, sondern auch als Brüchigwerdung des vermeintlich gegebenen Geschlechts:
„Und was zunächst als unverbindliche, gesellschaftsferne, abseitige Spielerei erscheinen mag, gewinnt plötzlich die Dimension eines sozialen Experiments von beträchtlicher Tragweite. Wird doch hier etwas in Frage gestellt, ver-rückt, auf den Kopf gestellt, das uns allen als das vielleicht Festeste, Selbstverständlichste auf der Welt gilt: unsere geschlechtliche Identität. Seine Hobbys kann man wechseln, den Beruf vielleicht auch, den oder die erotischen „Partner“ allemal, vielleicht sogar die soziale Klasse, der man entstammt: aber das Genus? Soweit wir uns rückerinnern können in unseren längeren oder kürzeren Leben – unser Geschlecht begegnet uns ja immer als bereits fixiert, vorgegeben, unabänderlich, ja auch vom Bedürfnis nach Veränderung strikt ausgenommen. Oder doch nicht?“ (5)
Was sollte Queerness anderes bedeuten, als die Zerrüttung der vermeintlich festen Gewissheiten des geschlechtlichen „Genus“?
Neben den FDJ-Poetenseminaren, der Lesbenzeitschrift „frau anders“ und einem Gespräch mit dem Autor Norbert Marohn beschäftigen sich die Artikel in diesem Band mit den Autor:innen Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann, Christa Wolf, Christa Reinig, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Sarah Kirsch, Maxie Wander, Waldtraut Lewin, Christa Kożik, Norbert Marohn, Ronald M. Schernikau, Franz Fühmann und Erich Loest. Diese Liste ist unvollständig und auch nicht als Systematik Queerer DDRAutor:innen bzw. Queerer DDR-Literatur zu verstehen. Vielmehr ist sie ein erster Vorschlag, Literatur aus der DDR unter queermaterialistischer Perspektive zu betrachten. Queer ist – das wird in allen Beiträgen deutlich – in der der hier besprochenen Literatur weniger allein ein inhaltliches Akronym für diverse Sexualitäten, Begehren und Geschlechter. Mehr noch zeigt sich Queeres ausgehend vom literarischen Material als ein ästhetisches Verfahren sowie als textuelle erotische Praxis.
Ob es überhaupt eine ästhetische Spezifik in der Literatur der DDR gibt und ob meine Behauptung, jene Ästhetik als queer materialistisches Verfahren zu begreifen, trägt: Das lässt sich nun in den Artikeln der Autor:innen dieses Sammelbandes überprüfen.
Dieses Buch ist das Ergebnis einer gleichnamigen Tagung, die im Sommer 2024 an der Universität Regensburg im Rahmen des Freigeist-Projektes Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism“ der Volkswagen Stiftung stattfand. Gleichwohl nur ein Name auf diesem Band steht, ist er selbstverständlich ein Produkt kollektiver Arbeit. Daher danke ich der gesamten Gruppe von Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism, insbesondere Tatiana Klepikova und Saltanat Shoshanova, für ihre Hilfe vor, während und nach der Tagung.
Jonas und Simon: Danke für den ostdeutschen Rücken in Regensburg und Abende mit Automatenbier. Adina Kükelhahn gilt mein Dank für das aufmerksame Korrektorat.
Und Linus; danke für das gemeinsame Suchen und Finden der richtigen Worte dieser ersten Seiten. Weil es einen Anfang bildete, steht es hier auch am Ende: Danke an das Kollektiv DiasporaOst: Wir haben eine Welt zu gewinnen.
Franziska Haug
September 2025
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Janin Afken
„Für einen Moment war eine fremde Trieblandschaft in grelles Blitzlicht getaucht“. Lesbische* Utopien in der DDR-Literatur der 1970er Jahre
Alexander Wagner
Anthropophage Erotik, ein kleines Rasenstück, Frauen aus Stein: Die „Hadischen Erzählungen“ in Irmtraud Morgners Trobadora Beatriz
Jonas Haug
Träumen und Sprechen – plurale Subjektivität in Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand
Ida Svingen Mo
Gertrud, Lord Byron und „das struppige Fuchsjunge“ – queeres Außenseitertum in Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand
Birgit Bockschweiger
Christa Wolf – eine queere Autorin?
Felix Schmidt
Die Frauen am Ida-Berg – eine queere Utopie? Queere Zeitlichkeit in Christa Wolfs Kassandra
Vojin Saša Vukadinović
Der Traum ihrer Verkommenheit. Anmerkungen zu Christa Reinigs Frühwerk
Sina Meißgeier
Literarische Veröffentlichungen in der Lesbenzeitschrift „frau anders“ als Spiegel der Transformationszeit
Nane Pleger
Eine sprechende Katze und ein Engel mit goldenem Schnurrbart. Wie fantastisch erzählte Figuren Gendernormen in Christa Kożiks Werk durchque(e)ren
Rebecca Franke
Queerness in der FDJ-Poetenbewegung
Lucas Mielke
Norbert Marohns Plötzlich mein Leben (1989) im Kontext des Homosexualitätsdiskurses der 1980er Jahre
Benedikt Wolf
Das Archiv als Form. Zu Ronald M. Schernikaus Legende
Lukas Betzler
Homosexuelles Begehren im Werk Franz Fühmanns
Liesa Hellmann
Die Front als queerer Möglichkeitsraum? Erich Loests Erzählung Hitlers Befehl (1956/1968)
Franziska Haug im Gespräch mit Norbert Marohn:
„Schreiben ist für mich intensiveres Leben“
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Franziska Haug (Hg.): „bin weiblich, bin männlich, doppelt“. Queere DDR-Literatur
Mitteldeutscher Verlag
1. Auflage
© 2026 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Bernburger Straße 2, 06108 Halle (Saale)
Zum Buch: ‚bin weiblich, bin männlich, doppelt‘. Queere DDR-Literatur
Alle Rechte vorbehalten.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werks insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen auch für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen und strafbar.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Hier geht’s zum Podcast des VW Freigeist Forschungsprojektes „Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism“, wo die Autor*innen des Bandes von Januar bis März 2026 in Interviews zu Wort kommen: https://queersocialism.net/podcast/
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1) Keck, Thomas, „Editorische Notiz“, in: Schernikau, Ronald M., Kleinstadtnovelle, 2. Aufl., Hamburg 2002, S. 86.
(2) Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.
(3) Annemarie Auer hatte Anfang der 1070er Jahren DDR-Autor:innen den Auftrag gegeben, sich in die Situation des anderen Geschlechts zu versetzen. So entstand eine Anthologie des Geschlechtertausches: Anderson, Edith (Hg.), Blitz aus heiterm Himmel, Rostock 1975.
(4) Vinken, Barbara, Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt am Main 1992, S. 11 f.
(5) Siehe Emmerich, Wolfgang, „Nachwort“, in: Kirsch, Sarah/Morgner, Irmtraud/Wolf, Christa, Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse, 3. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1980, S. 101 f.
24.11.2025
‚bin weiblich, bin männlich, doppelt‘. Queere DDR-Literatur
Exklusive Leseprobe des Bandes „'bin weiblich, bin männlich, doppelt'. Queere DDR-Literatur" (hg. Franziska Haug, Mitteldeutscher Verlag 2025)

Vorwort von Franziska Haug
Eine Frau mit männlicher Vergangenheit
müsste man sein.
(Irmtraud Morgner)
wie wirkt, worin wir leben?
(Ronald M. Schernikau)
Im Jahr 1977, mit gerade einmal 17 Jahren, beginnt der schwule Kommunist Ronald M. Schernikau die Arbeit an seiner Kleinstadtnovelle. Eine Frage treibt ihn dabei an und um, die sich fortan als paradigmatisches Verfahren seiner Literatur herausstellen und in seinem Opus magnum Legende wieder auftauchen wird: „wie wirkt, worin wir leben?“ (1) Die Antwort auf die Frage, was das Worin ist, scheint in unserem Fall einfach: eine sozialistische Gesellschaft; genauer: die DDR. Und trotz oder gerade, weil die DDR keine „Gesellschaft der Singularitäten“ (2) sondern eine des Kollektiven war, ist die Antwort auf die Frage nach dem WIR des und im Sozialismus komplizierter: Wie wirkt die DDR für Schwule und Lesben? Wie wirkt Kommunismus für Frauen und Queers; wie das sozialistische Kollektiv im Individuellen? War es möglich, sich nichtidentisch zum Staat zu verhalten? Wie wirkt die DDR für Maxie Wanders Mädchen und Frauen aus Guten Morgen, du Schöne; wie für Jürgen Lemkes Männer in Ganz normal anders. Auskünfte schwuler Männer? Wie wirkt der „Geschlechtertausch“ (3) Sarah Kirschs, Christa Wolfs, Günter de Bryns, Gottlob Glogers und vieler weiterer auf die Gesellschaftsverhältnisse? Wie also verhält sich das gesellschaftliche Ganze auf und in jenen einzelnen Leben und Geschichten, die wir heute queer nennen, und wie wiederum wirken jene Erzählungen und Leben ins Ganze zurück? Was haben nicht zuletzt das Erzählen, die (literarische) Sprache und Schrift für eine Rolle in eben diesen Wirkungsprozessen?
Wollen wir das Verhältnis von Gesellschaft und Geschlecht verstehen, müssen wir – zumindest laut Schernikau – nach dem Wie fragen. Etwas ist, wie es wirkt. Das Verhältnis von DDR/Sozialismus (Worin) und Geschlecht/Queerness (Wir) lässt sich nicht kausal verstehen: Es muss gerade in seiner Verzahnung und von den brüchigen Rändern ausgehend gedacht werden. „wie wirkt, worin wir leben“, beschreibt in diesem Sinne ein (literarisches) Verfahren, das einerseits die Wirklichkeit zum Ausgangspunkt nimmt, andererseits eben jene Wirklichkeit immer auch erschreibt, erarbeitet und herstellt. Was Sozialismus ist („worin wir leben“), lässt sich also über das Wie, über bestimmte ästhetisch- politische Formen und ihre Wirkungsweisen begreifen. Sozialismus ist, wie er wirkt. Dies gilt ebenso für Geschlecht, Sexualität und Begehren. Wir sind derart geschlechtlich, wie Geschlechterverhältnisse wirken. Oder mit Barbara Vinken gesprochen: „An die Stelle der Frage: Was ist eine Frau, tritt die Frage: wie wird man eine Frau.“ (4) Ohne einen Nachvollzug der Art und Weise des Werdens lässt sich weder beantworten, was Sozialismus noch was Geschlecht ist.
In Schernikaus Frage kommt für mich ein literarisches Verfahren zum Tragen, das ich queeren Materialismus nenne. Queer ist er, indem er sich über Fragen der Form – über das Wie – erschließt und erschreibt. Ein Materialismus, der darum weiß, dass die Dinge nicht gegeben, sondern gemacht sind, und der dennoch ihre Stofflichkeit, Leiblichkeit nicht ignoriert, sondern sich stattdessen dem widerständigen, abweichenden, nicht einordenbaren Spuren im Material zuwendet. Ein Materialismus also, der eben darum gerade gleichzeitig wirklich und (sozialistisch) realistisch ist, weil er sich über die Form, über das Wie seines Machens und Wirkens begreift.
Ich gehe also davon aus, dass sich in und durch literarische Formen Geschichten vermitteln, die wir ohne einen Nachvollzug eben jener Formen und Wirkungsweisen nicht sehen und hören würden. Was Queerness in der DDR war; davon können wir etwas erahnen, wenn wir darauf schauen, wie erzählt wird: Welche Erzählperspektiven und Stimmen sprechen in welchen Positionen und Funktionen? Was wird ausgelassen, was ausgeschmückt? Warum Blankvers und Drama? Was erzählt ein Brigadetagebuch, was eine Annonce in der „frau anders“? Bleibt eine Stadt wie Hoyerswerda die gleiche, wenn sie aus der Perspektive eines Liedermachers, aus der einer Architektin oder von den Kindern von Hoy erzählt wird?
In keinem anderen Land mit vergleichbarerer Größe wurde in der Kürze seiner Existenz so viel Literatur produziert und rezipiert wie in der DDR. Wo sonst, wenn nicht in Prosa, Lyrik, Theater, Zeitungen, Protokollen, Musik usw., wo sonst, wenn nicht in Literatur im weiten Sinne, sollten wir heute suchen, wenn wir etwas über Geschlecht, Sexualität, Begehren, Identität, Familie, Beziehungen, Träume und Wünsche in der DDR erfahren wollten? Dass die Literatur der DDR im westdeutschen Kanon der Germanistik, in den Gender Studies und im öffentlichen Diskurs der Bundesrepublik kaum eine Rolle spielt oder zumindest die letzten 35 Jahre grob vernachlässigt wurde, lässt sich daher nur politisch, nicht aber ästhetisch erklären.
An den Anfang dieses Bandes möchte ich in diesem Sinne folgende Behauptung stellen: Die Literatur der DDR spricht wie kaum eine andere Literatur eine Sprache, die ihren Ort im Dazwischen hat: in den Widersprüchen zwischen Wirklichkeit- Möglichkeit, Materie-Form, Träumen Fürchten, Gehen-Bleiben, Fakt-Fiktion… Weil die Literatur der DDR im ästhetischen Sinne formversessen und im materialistischen Sinne realistisch ist, vermute ich, dass in ihr solche Art literarischer Verfahren zum Tragen kommen, die ich queeren Materialismus genannt habe. Queerness-DDR-Materialismus – das mag widersprüchlich klingen. Vielleicht ist es das auch; vielleicht bleiben unaufhebbare Reste dieses Widerspruchs. Aber richtig ist auch, dass, wie Thomas Brasch sagte, im Widerspruch die Hoffnung liegt. Das Verhältnis und die Widersprüche von Sexualität+Geschlecht auf der einen und Kommunismus+Sozialismus auf der anderen Seite zu denken heißt auch, auf Spurensuche nach Hoffnungen und Möglichkeitsräumen eines gerechten – also klassenlosen – und vom Zwang geschlechtlicher Identifikation befreiten – also queeren – Lebens zu gehen. Die DDR war vom Widerspruch geprägt, ein gerechtes Land für alle und doch repressiv gegen Einzelne zu sein. Sie war geprägt vom Widerspruch zwischen Fortschritt und Regress, Revolution und Restauration, starken Frauen und traurigen Männern, sprachlosen Eltern und drängenden Kindern, Träumen und Fürchten, vom Gehen oder Bleiben.
Die hier versammelten Beiträge sind ein unvollständiger Versuch, den literarischen Spuren des Nichtidentischen in Geschlecht, Sexualität und Begehren in der DDR nachzugehen. Der Term „Queer“ ist dabei offensichtlich ein nachträgliches Werkzeug, dessen Anwendung im Kontext DDR; also auf eine Zeit, in der es ihn in Europa generell noch nicht gab, vielleicht fragwürdig ist. Gleichzeitig beschreibt er genau das, was ich in Bezug auf Geschlechterfragen in der DDR-Literatur so kostbar und interessant finde: dass sich in ihr eine Sprache der Abweichung, der Spuren und Reste für das Sexuelle, das Begehren und Geschlecht finden lässt. Eine Sprache, die noch keine festen Kategorien und Termini kennt und somit Sexualität von den nichtidentischen Rändern aus erschreibt. Wolfgang Emmerich bezeichnet in diesem Sinne das, was im literarischen Geschlechtertausch der DDR-Autor:innen passiert, als Infragestellung von nicht „nur“ der Geschlechtsidentität, den vergeschlechtlichen Rollen und Normen, sondern auch als Brüchigwerdung des vermeintlich gegebenen Geschlechts:
„Und was zunächst als unverbindliche, gesellschaftsferne, abseitige Spielerei erscheinen mag, gewinnt plötzlich die Dimension eines sozialen Experiments von beträchtlicher Tragweite. Wird doch hier etwas in Frage gestellt, ver-rückt, auf den Kopf gestellt, das uns allen als das vielleicht Festeste, Selbstverständlichste auf der Welt gilt: unsere geschlechtliche Identität. Seine Hobbys kann man wechseln, den Beruf vielleicht auch, den oder die erotischen „Partner“ allemal, vielleicht sogar die soziale Klasse, der man entstammt: aber das Genus? Soweit wir uns rückerinnern können in unseren längeren oder kürzeren Leben – unser Geschlecht begegnet uns ja immer als bereits fixiert, vorgegeben, unabänderlich, ja auch vom Bedürfnis nach Veränderung strikt ausgenommen. Oder doch nicht?“ (5)
Was sollte Queerness anderes bedeuten, als die Zerrüttung der vermeintlich festen Gewissheiten des geschlechtlichen „Genus“?
Neben den FDJ-Poetenseminaren, der Lesbenzeitschrift „frau anders“ und einem Gespräch mit dem Autor Norbert Marohn beschäftigen sich die Artikel in diesem Band mit den Autor:innen Irmtraud Morgner, Brigitte Reimann, Christa Wolf, Christa Reinig, Helga Königsdorf, Helga Schütz, Sarah Kirsch, Maxie Wander, Waldtraut Lewin, Christa Kożik, Norbert Marohn, Ronald M. Schernikau, Franz Fühmann und Erich Loest. Diese Liste ist unvollständig und auch nicht als Systematik Queerer DDRAutor:innen bzw. Queerer DDR-Literatur zu verstehen. Vielmehr ist sie ein erster Vorschlag, Literatur aus der DDR unter queermaterialistischer Perspektive zu betrachten. Queer ist – das wird in allen Beiträgen deutlich – in der der hier besprochenen Literatur weniger allein ein inhaltliches Akronym für diverse Sexualitäten, Begehren und Geschlechter. Mehr noch zeigt sich Queeres ausgehend vom literarischen Material als ein ästhetisches Verfahren sowie als textuelle erotische Praxis.
Ob es überhaupt eine ästhetische Spezifik in der Literatur der DDR gibt und ob meine Behauptung, jene Ästhetik als queer materialistisches Verfahren zu begreifen, trägt: Das lässt sich nun in den Artikeln der Autor:innen dieses Sammelbandes überprüfen.
Dieses Buch ist das Ergebnis einer gleichnamigen Tagung, die im Sommer 2024 an der Universität Regensburg im Rahmen des Freigeist-Projektes Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism“ der Volkswagen Stiftung stattfand. Gleichwohl nur ein Name auf diesem Band steht, ist er selbstverständlich ein Produkt kollektiver Arbeit. Daher danke ich der gesamten Gruppe von Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism, insbesondere Tatiana Klepikova und Saltanat Shoshanova, für ihre Hilfe vor, während und nach der Tagung.
Jonas und Simon: Danke für den ostdeutschen Rücken in Regensburg und Abende mit Automatenbier. Adina Kükelhahn gilt mein Dank für das aufmerksame Korrektorat.
Und Linus; danke für das gemeinsame Suchen und Finden der richtigen Worte dieser ersten Seiten. Weil es einen Anfang bildete, steht es hier auch am Ende: Danke an das Kollektiv DiasporaOst: Wir haben eine Welt zu gewinnen.
Franziska Haug
September 2025
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„Für einen Moment war eine fremde Trieblandschaft in grelles Blitzlicht getaucht“. Lesbische* Utopien in der DDR-Literatur der 1970er Jahre
Alexander Wagner
Anthropophage Erotik, ein kleines Rasenstück, Frauen aus Stein: Die „Hadischen Erzählungen“ in Irmtraud Morgners Trobadora Beatriz
Jonas Haug
Träumen und Sprechen – plurale Subjektivität in Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand
Ida Svingen Mo
Gertrud, Lord Byron und „das struppige Fuchsjunge“ – queeres Außenseitertum in Brigitte Reimanns Franziska Linkerhand
Birgit Bockschweiger
Christa Wolf – eine queere Autorin?
Felix Schmidt
Die Frauen am Ida-Berg – eine queere Utopie? Queere Zeitlichkeit in Christa Wolfs Kassandra
Vojin Saša Vukadinović
Der Traum ihrer Verkommenheit. Anmerkungen zu Christa Reinigs Frühwerk
Sina Meißgeier
Literarische Veröffentlichungen in der Lesbenzeitschrift „frau anders“ als Spiegel der Transformationszeit
Nane Pleger
Eine sprechende Katze und ein Engel mit goldenem Schnurrbart. Wie fantastisch erzählte Figuren Gendernormen in Christa Kożiks Werk durchque(e)ren
Rebecca Franke
Queerness in der FDJ-Poetenbewegung
Lucas Mielke
Norbert Marohns Plötzlich mein Leben (1989) im Kontext des Homosexualitätsdiskurses der 1980er Jahre
Benedikt Wolf
Das Archiv als Form. Zu Ronald M. Schernikaus Legende
Lukas Betzler
Homosexuelles Begehren im Werk Franz Fühmanns
Liesa Hellmann
Die Front als queerer Möglichkeitsraum? Erich Loests Erzählung Hitlers Befehl (1956/1968)
Franziska Haug im Gespräch mit Norbert Marohn:
„Schreiben ist für mich intensiveres Leben“
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Franziska Haug (Hg.): „bin weiblich, bin männlich, doppelt“. Queere DDR-Literatur
Mitteldeutscher Verlag
1. Auflage
© 2026 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Bernburger Straße 2, 06108 Halle (Saale)
Zum Buch: ‚bin weiblich, bin männlich, doppelt‘. Queere DDR-Literatur
Alle Rechte vorbehalten.
Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werks insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen auch für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen und strafbar.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.
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Hier geht’s zum Podcast des VW Freigeist Forschungsprojektes „Light On! Queer Literatures and Cultures under Socialism“, wo die Autor*innen des Bandes von Januar bis März 2026 in Interviews zu Wort kommen: https://queersocialism.net/podcast/
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1) Keck, Thomas, „Editorische Notiz“, in: Schernikau, Ronald M., Kleinstadtnovelle, 2. Aufl., Hamburg 2002, S. 86.
(2) Reckwitz, Andreas, Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne, Berlin 2017.
(3) Annemarie Auer hatte Anfang der 1070er Jahren DDR-Autor:innen den Auftrag gegeben, sich in die Situation des anderen Geschlechts zu versetzen. So entstand eine Anthologie des Geschlechtertausches: Anderson, Edith (Hg.), Blitz aus heiterm Himmel, Rostock 1975.
(4) Vinken, Barbara, Dekonstruktiver Feminismus. Literaturwissenschaft in Amerika, Frankfurt am Main 1992, S. 11 f.
(5) Siehe Emmerich, Wolfgang, „Nachwort“, in: Kirsch, Sarah/Morgner, Irmtraud/Wolf, Christa, Geschlechtertausch. Drei Geschichten über die Umwandlung der Verhältnisse, 3. Aufl., Darmstadt/Neuwied 1980, S. 101 f.
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf