Filmvorführung / 1991 / Petra Tschörtner
11.06.2024 20:00 Uhr
Kino Pupille Frankfurt Am Main
Die Mauer ist gefallen, die Wiedervereinigung beschlossen. Berlin – Prenzlauer Berg dokumentiert Begegnungen aus den letzten Monaten der DDR: in einer Näherei steht die Entlassung vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen bevor, ein Bekleidungsgeschäft wird privatisiert, Jugendliche rufen Nazi-Parolen, ein Imbiss führt West-Mark Preise ein.
Kommentar: Elena Baumeister.
Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990
Filmkommentar am 11. Juni 2024 von Elena Baumeister
Filmemacherinnen und Filmfeminismen in der DDR
Petra Tschörtner kam Ende der 1970er Jahre als Volontärin zur DEFA (Deutsche Film und Aktiengesellschaft) und als Regisseurin an die Filmhochschule in Babelsberg, die heutige Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Der Großteil Tschörtners Schaffens datiert auf die 1980er Jahre. Sie gehörte somit zur letzten Generation der DEFA-Regisseur*innen vor der Wendezeit. Nicht cis-männliche Akteur*innen im Film hat es immer gegeben, auch in der DDR – wobei es bei der DEFA in allen Jahrzehnten offenbar keine einzige Kamerafrau gab. In der unmittelbaren Nachkriegszeit arbeiteten vor allem viele Autorinnen beim Film. Erst ab den 1970er Jahren gab es regieführende Frauen, die Spielfilme bei der DEFA realisierten, darunter Iris Gusner, Evelyn Schmidt oder Hannelore Unterberg. (Klauß / Schenk 2019) Bekannt sind heute vor allem jene Spielfilmregisseurinnen, wobei wohl Helke Misselwitz als Ausnahme zu nennen ist. Sie erreichte mit ihrem Dokumentarfilm WINTER ADÉ (1989), der anhand von Interviews mit sehr unterschiedlichen Frauen politische Ideale mit der gesellschaftlichen Realität der späten DDR abglich, internationalen Durchbruch.
Was es in der DDR nicht gab: eine Frauenfilmbewegung wie in der BRD. Eine dezidiert feministische Solidarität zwischen Frauen im Filmbereich ist nicht belegt. Die Regisseurinnen Helke Misselwitz und Petra Tschörtner waren allerdings persönlich befreundet. Gemeinsam arbeiteten sie an Buch und Regie zu Räume. Aufbruch – DDR, einem 15-minütigen TV-Beitrag im Auftrag des ZDF, der im November 1990 die Stimmung unmittelbar nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur BRD einfängt. In dem Film machen vor allem die Frauen einer Familie in Prenzlauer Berg ihrer Wut über eine den Wiedervereinigungs-Diskurs bestimmende Abwertung des Ostdeutschen Luft. Die gezeigte Wohnung evoziert aus heutiger Perspektive auch die mittlerweile weit vorangeschrittene Gentrifizierung dieser Gegend im Berliner Osten. (Baumeister / Holzberger / Berg 2024)
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Frauen sind in DDR und BRD nicht vergleichbar. Viele Forderungen der westdeutschen Frauenbewegung galten im Osten als umgesetzt. In der DDR gab es unterstützende Maßnahmen für Weiterbildung, es wurden Einrichtungen zur Kinderbetreuung gegründet, Mutterschutz wurde implementiert, seit 1972 gab es das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
Die westdeutsche Frauenfilmbewegung war ab 1973 mit dem von den Regisseurinnen Claudia von Alemann und Helke Sander organisierten Ersten Internationalen Frauenfilmseminar in Westberlin auf den Plan getreten. Meines Wissens nach gibt es bislang keine wissenschaftliche Aufarbeitung über filmfeministische Beziehungen und einen möglichen Austausch über die innerdeutschen Grenzen hinweg. Iris Gusner und Helke Sander haben 2009 einen autobiographischen Band mit dem Titel „Fantasie und Arbeit: Biographische Zwiesprache“ vorgelegt, in dem sie sich über Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Regie-Karrieren und ihrer Leben, u.a. als Mütter, in Ost und West verständigen.
Im Bereich der bildenden Kunst gab es in der DDR einzelne feministische Gruppierungen wie beispielsweise die Künstlerinnengruppe Erfurt, der unter anderem die Schriftstellerin und Künstlerin Gabriele Stötzer angehörte. Auch Künstlerinnen wie Claudia Schleime, deren filmische Arbeit sich im Kontext des Experimentalfilms bewegt, drehten jenseits der staatlich gelenkten Filmproduktion auf dem Schmalfilmformat Super 8. Schleimes Experimentalfilm ‚Unter weißen Tüchern‘ (1983) etwa drückt in Mehrdeutigkeit eines weißen Brautschleiers beziehungsweise fesselnder Bandagen eine beklemmende Situation aus speziell weiblicher Perspektive aus. Zu den dezidiert feministischen Themen, auf die ich in meinen Recherchen immer wieder gestoßen bin, zählen: weibliche Selbstbehauptung und Resilienz, doppelte Belastung von Sorge-Arbeit und Beruf, Zwang zur Konformität des Körpers, Beziehungen und alleinerziehende Mütter.
Elena Baumeister 2024
Petra Tschörtner
Petra Tschörtner, geboren 1958, gestorben 2012, wird als eine der kompromisslosesten Stimmen ihrer Generation beschrieben. Während ihres Volontariats bei der DEFA arbeitete sie in Co-Regie mit Angelika Andrees an ‚Heim‘ (1978), einem kurzen Dokumentarfilm, der eingewiesene Jugendliche in einem Kinderheim in Mentin zeigt. Die Fertigstellung des Films wurde aufgrund der Brisanz des Gezeigten gestoppt, ‚Heim‘ konnte erst 1990 zur Aufführung kommen. Im Anschluss an ihr Volontariat studierte Petra Tschörtner ab 1978 (also als Zwanzigjährige) an der Filmhochschule in Babelsberg. Dort traf sie auf Kommilliton*innen wie unter anderem die bereits erwähnte Helke Misselwitz sowie den kürzlich verstorbenen Dokumentarfilmemacher Thomas Heise.
Im ersten Studienjahr drehte Tschörtner mit ‚Susis Schicht‘ (1978) das Porträt einer jungen Hilfsarbeiterin im VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung. Diese filmische Übung ist gemäß der an der Filmhochschule üblichen Aufgabenstellung stumm und zudem nur sieben Minuten lang, blickt jedoch tief in abgründige Bereiche der Gesellschaft, unter deren Bedingungen er entstand. Die Protagonistin schuftet und entlädt LKW-Lieferungen mit Altpapier. In der Pause räumt sie außerdem das dreckige Geschirr ihrer männlichen Kollegen weg, ganz nebenbei. Die Kamera fängt eine Hierarchie unter den Arbeiter*innen ein - Susi steht an ihrem unteren Ende. „Die patriarchalische Gesellschaft, sichtbar gemacht in einer einzigen Einstellung“, stellt Helke Misselwitz dazu fest. (Misselwitz 2019)
Tschörtners Diplomfilm ‚Hinter den Fenstern‘ (1984) gewann bei den westdeutschen Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen den Hauptpreis der Internationalen Jury. Tschörtner erfuhr erst im Nachgang davon. Der Film zeigt intime Dialogsituationen mit Paaren um die Dreißig, deren Beziehungsalltag und patriarchal geprägte Dynamiken sehr weit vom Idealbild der sozialistischen Familie entfernt sind. Besonders an dem Film ist die Hinwendung zum Privaten überhaupt. Das setzte Anfang der 1980er Jahre in der DDR neue Maßstäbe fürs Filmemachen. Die Regisseurin ist als Fragende stets präsent – und doch hat der Film eine beobachtende, nicht einordnende Perspektive, denn er verzichtet auf jeglichen Kommentar.
Insgesamt hat Tschörtner an die 25 Filme hinterlassen, die meisten davon kurz, viele äußerst sehenswert, darunter ‚Femini – eine Rockband in Berlin‘ (1982) über eine ausschließlich aus Frauen bestehende Musikgruppe in einem männlichen Metier und ‚Schnelles Glück‘ (1989) über das in der DDR tabuisierte Thema Glücksspiel, das anhand Aufnahmen der Pferderennbahn in Berlin Karlshorst verhandelt wird. Laut der Website der DEFA-Stiftung sind noch nicht alle Tschörtner-Filme digitalisiert worden. Der Nachlass der Regisseurin liegt im Filmmuseum Potsdam. 2022 widmete das Festival „Achtung Berlin“ Tschörtner eine Retrospektive.
Petra Tschörtners künstlerische Stimme konnte nie zur vollständigen Entfaltung gelangen, wie Claus Löser in seinem Text „Auf Augenhöhe“ im Leuchtkraft Magazin der DEFA Stiftung lamentiert. (Löser 2020) Dieser Karriereknick ist nicht ungewöhnlich. Nachdem die Strukturen der DEFA endgültig abgewickelt worden waren, war es vielen Filmemacher*innen aus dem Osten im wiedervereinigten Deutschland nicht gegeben, sich nahtlos in die Bedingungen der freien Arbeitsbedingungen zu integrieren und erfolgreich Filmprojekte umzusetzen. Dies galt insbesondere für die Regisseurinnen. Hier gibt es übrigens auch eine Parallele zur bildenden Kunst. Künstlerinnen mussten nach dem Zusammenbruch der DDR gravierende Einschnitte in Lebens- und Arbeitsbedingungen hinnehmen. (Pichl / Kunstraum Kreuzberg/Bethanien 2022) Nach dem Ende der DDR hat Petra Tschörtner zwei abendfüllende Arbeiten realisieren können. ‚Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990‘ ist einer davon.
Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990
Zeitraum und Ort der Dreharbeiten sind im Titel angegeben; die Mauer ist gefallen, es handelt sich um einen Film aus der sogenannten Transformationszeit. Als Tschörtners letzter Film noch bei der DEFA auf 35mm gedreht, premierte er bereits am 12. Dezember 1990. Zum umbruchshaften Zeitpunkt seiner Entstehung wurde dem Film wenig Beachtung zuteil. Mittlerweile wird er auch aufgrund seines Dokumentcharakters häufig rezipiert und liegt auf DVD vor. Hilde Hofmann stellt in ihrem Aufsatz „Im Bergwerk der Wirklichkeit graben“ Ähnlichkeiten der Machart von ‚Berlin – Prenzlauer Berg‘ mit der Ästhetik von Filmen des Neorealismus heraus. Wie bei einigen von Tschörtners genannten früheren Filmen, handelt es sich um einen beobachtenden Dokumentarfilm ohne Voice Over. Existentielles wird im Kleinen gezeigt. Die Protagonist*innen des Films werden von der Kamera in ihre Umgebung eingebettet. Auch dank Gerd Kroskes Dramaturgie ist der Film ist ein vielschichtiges Zeitdokument der Sorgen und Hoffnungen der Menschen in einer Zeit des Umbruchs zwischen dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai und dem Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990: „Es ging um radikale Demokratisierung und Mitbestimmung innerhalb des Sozialismus, nicht um eine Vereinigung mit dem anderen deutschen Staat.“ (Hoffmann 2021) Dieses emotional oszillierende Setting liefert berührende Szenen, darunter Aufnahmen mit einem Protagonisten im Altenheim, die an Tschörtners frühere Dokumentationen von Institutionen erinnern. Besonders hellsichtig sind aus heutiger Sicht auch die Aufnahmen, in denen es um vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen aus dem sozialistischen Bruderland geht. Rassistische und koloniale Denkmuster existierten in der DDR offiziell nicht und kommen hier unreflektiert zum Vorschein.
Das erste Bild des Films zeigt eine U-Bahnkreuzung an der Schönhauser Allee. Der damalige Wohnort der Regisseurin ist zum Einen ein historischer Ort und zum Anderen ein Ort der DEFA-Filmgeschichte. Seit dem DEFA-Kultfilm ‚Berlin - Ecke Schönhauser…‘ (Gerhard Klein, 1957) hatte sie das dortige Nachtleben und Milieu zum Anlass für Erzählungen genommen. ‚Berlin – Prenzlauer Berg‘ wurde größtenteils nachts gedreht und taucht ein in Eckkneipen und queere Subkultur. Die Musik im Film lässt auf das Lebensgefühl der Wendezeit schließen. Und bevor der Film gleich startet, möchte ich Ihnen noch ein Zitat aus dem Song der im Film gezeigten Band Herbst in Peking mitgeben: „We need a revolution. The system ain’t gonna change, unless we make it change.”
Baumeister, Elena, Sophie Holzberger, und Fiona Berg (2024): feminist elsewheres: Kuratieren aus dem Archiv feministischer Filmarbeit, in: Frauen und Film, Heft 72: Archive, Berlin: Aviva.
Felsmann, Barbara (2019): Petra Tschörtner, in: Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme (Klauß, Cornelia und Schenk, Ralf, Hrsg.), S. 353–59, Berlin: Bertz + Fischer.
Hoffmann, Hilde (2021): Im Bergwerk der Wirklichkeit graben. Petra Tschörtners ‚Berlin - Prenzlauer Berg‘“, in: Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990 (Zoller, Maxa und Schiel, Betty, Hrsg.), S. 32–45, Berlin: Bertz + Fischer.
Klauß, Cornelia, und Schenk, Ralf (2019): Die eigene Handschrift, in: Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme, S. 11–24, Berlin: Bertz + Fischer.
Löser, Claus (2020): Auf Augenhöhe. Zum filmischen Werk Petra Tschörtners, in: Leuchtkraft, Journal der DEFA-Stiftung, Heft 3, S. 82–92.
Misselwitz, Helke (2019): PS: Meine Freundin Petra Tschörtner, in: Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme (Klauß, Cornelia und Schenk, Ralf, Hrsg.), S. 357, Berlin: Bertz + Fischer.
Pichl, Andrea, und Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Hrsg (2022): Worin unsere Stärke besteht. Fünfzig Künstlerinnen aus der DDR. Eine Textsammlung zur Ausstellung, Berlin: Distanz.
https://www.defa-stiftung.de/stiftung/aktuelles/film-des-monats/berlin-prenzlauer-berg/
Filmvorführung / 1991 / Petra Tschörtner
11.06.2024 20:00 Uhr
Kino Pupille Frankfurt Am Main
Die Mauer ist gefallen, die Wiedervereinigung beschlossen. Berlin – Prenzlauer Berg dokumentiert Begegnungen aus den letzten Monaten der DDR: in einer Näherei steht die Entlassung vietnamesischer Vertragsarbeiterinnen bevor, ein Bekleidungsgeschäft wird privatisiert, Jugendliche rufen Nazi-Parolen, ein Imbiss führt West-Mark Preise ein.
Kommentar: Elena Baumeister.
Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990
Filmkommentar am 11. Juni 2024 von Elena Baumeister
Filmemacherinnen und Filmfeminismen in der DDR
Petra Tschörtner kam Ende der 1970er Jahre als Volontärin zur DEFA (Deutsche Film und Aktiengesellschaft) und als Regisseurin an die Filmhochschule in Babelsberg, die heutige Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf. Der Großteil Tschörtners Schaffens datiert auf die 1980er Jahre. Sie gehörte somit zur letzten Generation der DEFA-Regisseur*innen vor der Wendezeit. Nicht cis-männliche Akteur*innen im Film hat es immer gegeben, auch in der DDR – wobei es bei der DEFA in allen Jahrzehnten offenbar keine einzige Kamerafrau gab. In der unmittelbaren Nachkriegszeit arbeiteten vor allem viele Autorinnen beim Film. Erst ab den 1970er Jahren gab es regieführende Frauen, die Spielfilme bei der DEFA realisierten, darunter Iris Gusner, Evelyn Schmidt oder Hannelore Unterberg. (Klauß / Schenk 2019) Bekannt sind heute vor allem jene Spielfilmregisseurinnen, wobei wohl Helke Misselwitz als Ausnahme zu nennen ist. Sie erreichte mit ihrem Dokumentarfilm WINTER ADÉ (1989), der anhand von Interviews mit sehr unterschiedlichen Frauen politische Ideale mit der gesellschaftlichen Realität der späten DDR abglich, internationalen Durchbruch.
Was es in der DDR nicht gab: eine Frauenfilmbewegung wie in der BRD. Eine dezidiert feministische Solidarität zwischen Frauen im Filmbereich ist nicht belegt. Die Regisseurinnen Helke Misselwitz und Petra Tschörtner waren allerdings persönlich befreundet. Gemeinsam arbeiteten sie an Buch und Regie zu Räume. Aufbruch – DDR, einem 15-minütigen TV-Beitrag im Auftrag des ZDF, der im November 1990 die Stimmung unmittelbar nach dem Beitritt der ehemaligen DDR zur BRD einfängt. In dem Film machen vor allem die Frauen einer Familie in Prenzlauer Berg ihrer Wut über eine den Wiedervereinigungs-Diskurs bestimmende Abwertung des Ostdeutschen Luft. Die gezeigte Wohnung evoziert aus heutiger Perspektive auch die mittlerweile weit vorangeschrittene Gentrifizierung dieser Gegend im Berliner Osten. (Baumeister / Holzberger / Berg 2024)
Die Lebens- und Arbeitsbedingungen für Frauen sind in DDR und BRD nicht vergleichbar. Viele Forderungen der westdeutschen Frauenbewegung galten im Osten als umgesetzt. In der DDR gab es unterstützende Maßnahmen für Weiterbildung, es wurden Einrichtungen zur Kinderbetreuung gegründet, Mutterschutz wurde implementiert, seit 1972 gab es das Recht auf Schwangerschaftsabbruch.
Die westdeutsche Frauenfilmbewegung war ab 1973 mit dem von den Regisseurinnen Claudia von Alemann und Helke Sander organisierten Ersten Internationalen Frauenfilmseminar in Westberlin auf den Plan getreten. Meines Wissens nach gibt es bislang keine wissenschaftliche Aufarbeitung über filmfeministische Beziehungen und einen möglichen Austausch über die innerdeutschen Grenzen hinweg. Iris Gusner und Helke Sander haben 2009 einen autobiographischen Band mit dem Titel „Fantasie und Arbeit: Biographische Zwiesprache“ vorgelegt, in dem sie sich über Unterschiede und Gemeinsamkeiten ihrer Regie-Karrieren und ihrer Leben, u.a. als Mütter, in Ost und West verständigen.
Im Bereich der bildenden Kunst gab es in der DDR einzelne feministische Gruppierungen wie beispielsweise die Künstlerinnengruppe Erfurt, der unter anderem die Schriftstellerin und Künstlerin Gabriele Stötzer angehörte. Auch Künstlerinnen wie Claudia Schleime, deren filmische Arbeit sich im Kontext des Experimentalfilms bewegt, drehten jenseits der staatlich gelenkten Filmproduktion auf dem Schmalfilmformat Super 8. Schleimes Experimentalfilm ‚Unter weißen Tüchern‘ (1983) etwa drückt in Mehrdeutigkeit eines weißen Brautschleiers beziehungsweise fesselnder Bandagen eine beklemmende Situation aus speziell weiblicher Perspektive aus. Zu den dezidiert feministischen Themen, auf die ich in meinen Recherchen immer wieder gestoßen bin, zählen: weibliche Selbstbehauptung und Resilienz, doppelte Belastung von Sorge-Arbeit und Beruf, Zwang zur Konformität des Körpers, Beziehungen und alleinerziehende Mütter.
Petra Tschörtner
Petra Tschörtner, geboren 1958, gestorben 2012, wird als eine der kompromisslosesten Stimmen ihrer Generation beschrieben. Während ihres Volontariats bei der DEFA arbeitete sie in Co-Regie mit Angelika Andrees an ‚Heim‘ (1978), einem kurzen Dokumentarfilm, der eingewiesene Jugendliche in einem Kinderheim in Mentin zeigt. Die Fertigstellung des Films wurde aufgrund der Brisanz des Gezeigten gestoppt, ‚Heim‘ konnte erst 1990 zur Aufführung kommen. Im Anschluss an ihr Volontariat studierte Petra Tschörtner ab 1978 (also als Zwanzigjährige) an der Filmhochschule in Babelsberg. Dort traf sie auf Kommilliton*innen wie unter anderem die bereits erwähnte Helke Misselwitz sowie den kürzlich verstorbenen Dokumentarfilmemacher Thomas Heise.
Im ersten Studienjahr drehte Tschörtner mit ‚Susis Schicht‘ (1978) das Porträt einer jungen Hilfsarbeiterin im VEB Kombinat Sekundär-Rohstofferfassung. Diese filmische Übung ist gemäß der an der Filmhochschule üblichen Aufgabenstellung stumm und zudem nur sieben Minuten lang, blickt jedoch tief in abgründige Bereiche der Gesellschaft, unter deren Bedingungen er entstand. Die Protagonistin schuftet und entlädt LKW-Lieferungen mit Altpapier. In der Pause räumt sie außerdem das dreckige Geschirr ihrer männlichen Kollegen weg, ganz nebenbei. Die Kamera fängt eine Hierarchie unter den Arbeiter*innen ein - Susi steht an ihrem unteren Ende. „Die patriarchalische Gesellschaft, sichtbar gemacht in einer einzigen Einstellung“, stellt Helke Misselwitz dazu fest. (Misselwitz 2019)
Tschörtners Diplomfilm ‚Hinter den Fenstern‘ (1984) gewann bei den westdeutschen Internationalen Kurzfilmtagen Oberhausen den Hauptpreis der Internationalen Jury. Tschörtner erfuhr erst im Nachgang davon. Der Film zeigt intime Dialogsituationen mit Paaren um die Dreißig, deren Beziehungsalltag und patriarchal geprägte Dynamiken sehr weit vom Idealbild der sozialistischen Familie entfernt sind. Besonders an dem Film ist die Hinwendung zum Privaten überhaupt. Das setzte Anfang der 1980er Jahre in der DDR neue Maßstäbe fürs Filmemachen. Die Regisseurin ist als Fragende stets präsent – und doch hat der Film eine beobachtende, nicht einordnende Perspektive, denn er verzichtet auf jeglichen Kommentar.
Insgesamt hat Tschörtner an die 25 Filme hinterlassen, die meisten davon kurz, viele äußerst sehenswert, darunter ‚Femini – eine Rockband in Berlin‘ (1982) über eine ausschließlich aus Frauen bestehende Musikgruppe in einem männlichen Metier und ‚Schnelles Glück‘ (1989) über das in der DDR tabuisierte Thema Glücksspiel, das anhand Aufnahmen der Pferderennbahn in Berlin Karlshorst verhandelt wird. Laut der Website der DEFA-Stiftung sind noch nicht alle Tschörtner-Filme digitalisiert worden. Der Nachlass der Regisseurin liegt im Filmmuseum Potsdam. 2022 widmete das Festival „Achtung Berlin“ Tschörtner eine Retrospektive.
Petra Tschörtners künstlerische Stimme konnte nie zur vollständigen Entfaltung gelangen, wie Claus Löser in seinem Text „Auf Augenhöhe“ im Leuchtkraft Magazin der DEFA Stiftung lamentiert. (Löser 2020) Dieser Karriereknick ist nicht ungewöhnlich. Nachdem die Strukturen der DEFA endgültig abgewickelt worden waren, war es vielen Filmemacher*innen aus dem Osten im wiedervereinigten Deutschland nicht gegeben, sich nahtlos in die Bedingungen der freien Arbeitsbedingungen zu integrieren und erfolgreich Filmprojekte umzusetzen. Dies galt insbesondere für die Regisseurinnen. Hier gibt es übrigens auch eine Parallele zur bildenden Kunst. Künstlerinnen mussten nach dem Zusammenbruch der DDR gravierende Einschnitte in Lebens- und Arbeitsbedingungen hinnehmen. (Pichl / Kunstraum Kreuzberg/Bethanien 2022) Nach dem Ende der DDR hat Petra Tschörtner zwei abendfüllende Arbeiten realisieren können. ‚Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990‘ ist einer davon.
Berlin – Prenzlauer Berg. Begegnungen zwischen dem 1. Mai und dem 1. Juli 1990
Zeitraum und Ort der Dreharbeiten sind im Titel angegeben; die Mauer ist gefallen, es handelt sich um einen Film aus der sogenannten Transformationszeit. Als Tschörtners letzter Film noch bei der DEFA auf 35mm gedreht, premierte er bereits am 12. Dezember 1990. Zum umbruchshaften Zeitpunkt seiner Entstehung wurde dem Film wenig Beachtung zuteil. Mittlerweile wird er auch aufgrund seines Dokumentcharakters häufig rezipiert und liegt auf DVD vor. Hilde Hofmann stellt in ihrem Aufsatz „Im Bergwerk der Wirklichkeit graben“ Ähnlichkeiten der Machart von ‚Berlin – Prenzlauer Berg‘ mit der Ästhetik von Filmen des Neorealismus heraus. Wie bei einigen von Tschörtners genannten früheren Filmen, handelt es sich um einen beobachtenden Dokumentarfilm ohne Voice Over. Existentielles wird im Kleinen gezeigt. Die Protagonist*innen des Films werden von der Kamera in ihre Umgebung eingebettet. Auch dank Gerd Kroskes Dramaturgie ist der Film ist ein vielschichtiges Zeitdokument der Sorgen und Hoffnungen der Menschen in einer Zeit des Umbruchs zwischen dem internationalen Kampftag der Arbeiterklasse am 1. Mai und dem Inkrafttreten der Wirtschafts- und Währungsunion am 1. Juli 1990: „Es ging um radikale Demokratisierung und Mitbestimmung innerhalb des Sozialismus, nicht um eine Vereinigung mit dem anderen deutschen Staat.“ (Hoffmann 2021) Dieses emotional oszillierende Setting liefert berührende Szenen, darunter Aufnahmen mit einem Protagonisten im Altenheim, die an Tschörtners frühere Dokumentationen von Institutionen erinnern. Besonders hellsichtig sind aus heutiger Sicht auch die Aufnahmen, in denen es um vietnamesischen Vertragsarbeiter*innen aus dem sozialistischen Bruderland geht. Rassistische und koloniale Denkmuster existierten in der DDR offiziell nicht und kommen hier unreflektiert zum Vorschein.
Das erste Bild des Films zeigt eine U-Bahnkreuzung an der Schönhauser Allee. Der damalige Wohnort der Regisseurin ist zum Einen ein historischer Ort und zum Anderen ein Ort der DEFA-Filmgeschichte. Seit dem DEFA-Kultfilm ‚Berlin - Ecke Schönhauser…‘ (Gerhard Klein, 1957) hatte sie das dortige Nachtleben und Milieu zum Anlass für Erzählungen genommen. ‚Berlin – Prenzlauer Berg‘ wurde größtenteils nachts gedreht und taucht ein in Eckkneipen und queere Subkultur. Die Musik im Film lässt auf das Lebensgefühl der Wendezeit schließen. Und bevor der Film gleich startet, möchte ich Ihnen noch ein Zitat aus dem Song der im Film gezeigten Band Herbst in Peking mitgeben: „We need a revolution. The system ain’t gonna change, unless we make it change.”
Quellen
Baumeister, Elena, Sophie Holzberger, und Fiona Berg (2024): feminist elsewheres: Kuratieren aus dem Archiv feministischer Filmarbeit, in: Frauen und Film, Heft 72: Archive, Berlin: Aviva.
Felsmann, Barbara (2019): Petra Tschörtner, in: Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme (Klauß, Cornelia und Schenk, Ralf, Hrsg.), S. 353–59, Berlin: Bertz + Fischer.
Hoffmann, Hilde (2021): Im Bergwerk der Wirklichkeit graben. Petra Tschörtners ‚Berlin - Prenzlauer Berg‘“, in: Was wir filmten. Filme von ostdeutschen Regisseurinnen nach 1990 (Zoller, Maxa und Schiel, Betty, Hrsg.), S. 32–45, Berlin: Bertz + Fischer.
Klauß, Cornelia, und Schenk, Ralf (2019): Die eigene Handschrift, in: Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme, S. 11–24, Berlin: Bertz + Fischer.
Löser, Claus (2020): Auf Augenhöhe. Zum filmischen Werk Petra Tschörtners, in: Leuchtkraft, Journal der DEFA-Stiftung, Heft 3, S. 82–92.
Misselwitz, Helke (2019): PS: Meine Freundin Petra Tschörtner, in: Sie. Regisseurinnen der DEFA und ihre Filme (Klauß, Cornelia und Schenk, Ralf, Hrsg.), S. 357, Berlin: Bertz + Fischer.
Pichl, Andrea, und Kunstraum Kreuzberg/Bethanien, Hrsg (2022): Worin unsere Stärke besteht. Fünfzig Künstlerinnen aus der DDR. Eine Textsammlung zur Ausstellung, Berlin: Distanz.
https://www.defa-stiftung.de/stiftung/aktuelles/film-des-monats/berlin-prenzlauer-berg/
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf
“Stellt Euch vor es ist Sozialismus und keiner geht weg.”
Christa Wolf